Einzelhandel: Streik muss gewonnen werden!
02/12/2013
Im deutschen Einzelhandel wird seit mehreren Monaten gestreikt. Auch wenn das Fehlen einer koordinierten Gegenwehr offensichtlich ist, ist die Kampfmoral zahlreicher KollegInnen ungebrochen. Denn die KapitalistInnen des Handelsverbandes (HDE) wollen durch die Kündigung aller Tarifverträge am Anfang dieses Jahres nicht weniger als die massive Senkung der löhne und Flexibilisierung der Arbeitszeit von mehr als drei Millionen Beschäftigten durchsetzen. Liegt der niedrigste Stundenlohn im Tarifvertrag des Einzelhandels zur Zeit bei knapp 11 Euro, soll laut den Plänen der Konzerne eine neue Niedriglohngruppe nur 8,50 pro Stunde verdienen. Dazu drohen massive Kürzungen bei Weihnachtsgeld sowie Spät- und Nachtzuschlägen. Außerdem soll die Planbarkeit der Schichtpläne auf null gesetzt werden, sodass Beschäftigte praktisch jederzeit abrufbar wären.
Von dieser Tarifrunde ist jeder elfte Arbeitsplatz in der BRD betroffen. Bereits jetzt stellt dieser Sektor die Speerspitze bei der Ausbreitung prekärer Arbeitsverhältnisse dar: 40% arbeiten in Teilzeit, und jedes Jahr werden 1,5 Milliarden Euro an Steuergeldern ausgegeben, damit Einzelhandelsbeschäftigte ihre löhne auf Hartz IV-Niveau aufstocken können. Der Staat subventioniert die Lohnkosten, und so ist es kein Wunder, dass unter den reichsten Menschen der BRD die ersten drei Plätze von BesitzerInnen von Einzelhandelsketten belegt sind. Befristete Verträge sind auch die Norm – statistisch gesehen hat die Modekette H&M alle fünf Jahre eine komplett neue Belegschaft. Besonders Frauen sind von diesen Bedingungen betroffen, da sie zwei Drittel der Belegschaft im Einzelhandel ausmachen.
Deshalb müsste sich der Streik auch gegen die voranschreitende Prekarisierung richten, die die Arbeits- und Lebensbedingungen einer ganzen Generation verschlechtert hat, und die Brücke zu anderen Sektoren wie Amazon schlagen. Doch die Gewerkschaft ver.di verzichtet auf eine ernsthafte Koordinierung des Streiks. In jedem Bezirk gibt es unterschiedliche Forderungen, Verhandlungen und Kampfrhythmen. Die Bürokratie der Gewerkschaft betont auch, dass sie für eine „Reform“ oder eine „Modernisierung“ des Tarifvertrages offen wäre, wenn die sogenannten „Arbeitgeber“ sich endlich an einen Tisch setzen würden. Angesichts dieses historischen Angriffs fordert die Gewerkschaft, dass die Gegenseite „ihren Teil zur lösung beiträgt“! [1]
Stattdessen braucht es einen Kampfplan, der in der Belegschaft diskutiert und entschieden wird, der den Streik ausweitet und vor allem die Aktionen in der umsatzwichtigen Weihnachtszeit intensiviert. Dazu können auch Streiks in Logistikzentren dienen – ohne Ware können noch so viele StreikbrecherInnen in der Filiale sein. Nicht, um einen „Teil zur lösung“ beizutragen, sondern um den gesamten Angriff abzuwehren.
Während des Streiks gab es schon in manchen läden spannende Protestformen. [2] Doch die Mobilisierungen sind klein und es gibt keine systematischen Versuche, die Basis zu aktivieren. Es gibt zwar linkere Teile des ver.di-Apparats, die von „Partizipation“ und „Demokratisierung“ im Streik reden, [3] doch das bedeutet nur, die Basis nach ihrer Meinung zu fragen, bevor der Apparat alle relevanten Entscheidungen trifft. Bei ver.di verdient der Vorsitzende Frank Bsirske ein Jahresgehalt von weit über 200.000 Euro. Es ist offensichtlich, dass er dadurch andere Interessen hat als ein/e Verkäufer/in im Einzelhandel. Seine Bürokratie ist nicht die Vertretung der Lohnabhängigen, sondern vielmehr eine Vermittlung zwischen Kapital und Arbeit. Deswegen müssen die Betroffenen selbst und nicht eine abgehobene Bürokratie über das Ergebnis des Streiks entscheiden.
Die Streikenden bekommen Solidarität von vielen Seiten. So haben Vertrauensleute bei Daimler in Stuttgart die Schuhabteilung einer bestreikten Kaufhof-Filiale lahmgelegt, und auch viele Studierende unterstützen die Streikaktionen. Waffen der Kritik, eine marxistische Hochschulgruppierung, die von RIO und unabhängigen Studierenden gebildet wird, bemüht sich um eine kontinuierliche Solidarität für den Streik. Auch die Blockupy-Plattform der Interventionistischen Linken und Linke.SDS von der Linkspartei besuchen die Streikposten. Allerdings wurden unsere Vorschläge eines einheitlichen studentischen Solidaritätskomitees bisher besonders von Linke.SDS abgelehnt.
Wir denken, dass Solidarität nicht nur dazu dienen soll, eine Bewerbungsmappe für einen gut dotierten Posten im Gewerkschaftsapparat auszufüllen. Studentische Solidarität soll den Mut der Basis stärken und ihre Selbstorganisierung vorantreiben, damit sie ihre eigenen Interessen auch unabhängig von der Bürokratie formulieren können. Doch nicht nur studentische Organisationen, sondern vor allem auch Parteien wie die Linkspartei müssen eine Kampagne organisieren, um den Streik bekannter zu machen und auszuweiten, auch wenn uns klar ist, dass es gerade die Linkspartei war, die in Berlin die Sonntagsarbeit ermöglicht hat.
Es ist gut möglich – trotz der aufopfernden Aktivität von unzähligen KollegInnen –, dass die ver.di-Führung einer „lösung“ zustimmt, die reale Verschlechterungen für die Beschäftigten beinhaltet. Gegen diese Gefahr brauchen wir lebendige Streikversammlungen an jedem Streiktag, in denen die KollegInnen den Kampf in ihre eigenen Hände nehmen und verbindliche Entscheidungen treffen können. Wir brauchen eine antibürokratische Bewegung in den Gewerkschaften, die dafür eintritt, dass alle FunktionärInnen direkt von der Basis gewählt werden, den Durchschnittslohn eines/r Facharbeiters/in verdienen und ihre Posten nach einem Rotationsprinzip besetzen. Nur so können sich die Gewerkschaften wieder in Kampforgane der ArbeiterInnen verwandeln, die effektiv die Angriffe des Kapitals verhindern können.
Der Streik im Einzelhandel ist aktuell ein zentrales Kampffeld zwischen Arbeit und Kapital in diesem Land. Sollte sich der HDE durchsetzen, wird das auch Angriffe auf weitere Sektoren und die Verschärfung der Prekarisierung bedeuten. Deswegen muss die revolutionäre Linke alles in diesen Kampf hineinwerfen – was bisher viel zu wenig geschieht.