Zu den Protesten der Non-Citizens
27/07/2013 Wir dokumentieren hier ein Dokument der Non-Citizens Supporters – Perspektivische Strömung, initiiert von RIO München und weiteren AktivistInnen
Seit März 2012 bildet sich eine Bewegung von Non-Citizens, die bundesweit mit Demonstrationen, Protestmärschen, Kongressen und Hungerstreiks um ihre Rechte kämpft. Non-Citizens steht für “Nicht-BürgerInnen”, Menschen ohne Aufenthaltserlaubnis in Deutschland, die unter Residenzpflicht stehen und jederzeit abgeschoben werden können. Die Non-Citizens-Bewegung organisiert sich politisch unabhängig und tritt mit folgenden zentralen Forderungen in die Öffentlichkeit:
- Anerkennung aller Asylsuchenden als politische Geflüchtete
– Stopp aller Abschiebungen
– Abschaffung der Residenzpflicht, welche den Asylsuchenden verbietet, ihren von den Behörden ausgesuchten Aufenthaltsort zu verlassen
– Abschaffung der Lagerpflicht, welche den Asylsuchenden verbietet, ihren Aufenthaltsort selbst auszuwählen
Am 22. Juni traten am Münchner Rindermarkt 55 Non-Citizens in den Hungerstreik, am 25. Juni in den trockenen Hungerstreik, um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen. Im Zuge der Aktion wurden öffentlich immer wieder Vorwürfe gegen die Protestierenden und ihre UnterstützerInnen – erhoben. Auch vom Münchner Oberbürgermeister Christian Ude kamen Anschuldigungen, unter anderem, dass “Kommandostrukturen” existiert hätten, die von einem unterstützenden ehemaligen Non-Citizen, der als Ìbermittler der Forderungen nach außen hin auftrat, ausgegangen wären. Damit lenkt Ude von den Forderungen ab, diffamiert die Non-Citizens und spricht ihnen ihre Fähigkeit zur Selbstbestimmung ab. Mit unserer Aktion heute wollen wir zeigen, dass die einzigen Kommandostrukturen in diesem Zusammenhang die des Staates gegenüber den Non-Citiziens sind. Dazu gehören Essenspakete, Residenzpflicht und Abschiebungen, die den Non-Citizens das Recht auf Selbstbestimmung nehmen und Citizens und Non-Citizens gegeneinander ausspielen sollen.
Viele BürgerInnen reagieren mit – schon von PolitikvertreterInnen ähnlich geäußerten – weiteren ablehnenden Positionen auf die Proteste. Einige sollen im Folgenden aufgenommen und kritisiert werden:
Position 1) “Wer soll denn für die Flüchtlinge zahlen?”
Tatsächlich stecken viele Menschen mit deutschem Pass und bürgerlichen Rechten selbst in finanziellen Nöten. Aber anstatt deswegen zu sagen, “wir können uns ein menschenwürdiges Leben für alle nicht leisten”, gilt es zu fragen, warum wir trotz fortlaufender Produktivitätssteigerungen (d.h. mehr Ertrag durch leistungsfähigere Maschinen, etc.) kaum materiell nennenswerte Verbesserungen erfahren. Im Gegenteil werden unsere Lebensverhältnisse durch prekäre Beschäftigung, längere und straffere Arbeitszeiten, Niedriglöhne, steigende Mieten, Arbeitslosigkeit und Repressionen der Arbeitsagentur immer weiter angegriffen. Während wir gezwungen sind unsere Arbeitskraft an die Besitzenden der Produktionsmittel zu verkaufen, streichen diese immer höhere Gewinne ein. Der gesamtgesellschaftliche Reichtum steigt immer weiter an, davon profitiert aber nur eine kleine Schicht von vermögenden KapitalistInnen.
Die Non-Citizens spielen in diesem System die Rolle von Ìberflüssigen, für die es keinen wirtschaftlichen Verwendungszweck gibt und die ausgeschlossen werden. Sie bilden die unterste Schicht der internationalen ArbeiterInnenklasse. Die gesellschaftlichen Grenzen verlaufen nicht zwischen vermeintlich verschiedenen Völkern, Nationen oder “Rassen”, sondern einzig und allein zwischen Oben und Unten, zwischen Kapital-Besitzenden und Arbeitskraft-Verkaufenden. Sorgen wir dafür, dass ALLE, die unten stehen, also die Lohnabhängigen und Unterdrückten, hier und weltweit zusammenstehen und für ihre Rechte kämpfen.
Gleichzeitig wird vom kapitalistischen Staat an geflüchteten Menschen ein Exempel statuiert: Es werden keine Kosten für Repression – von der Zwangsunterbringung und Einsperrung über die bürokratische “Bearbeitung” bis zur Abschiebung selbst – gescheut, um zu signalisieren, dass Privilegien an Nationalität und Herkunft geknüpft sind. Die restriktive deutsche “Asylpolitik” wird also auch unter Vorwand vermeintlicher Kosten zur politischen Abschreckung umgesetzt.
Position 2) “Die Protestierenden erpressen mit ihrer Aktion den Staat!”
Der Staat hat mit seiner Asylgesetzgebung erst dafür gesorgt, dass die Protestierenden dazu gezwungen sind, solche Aktionen durchzuführen. Das Problem der Non-Citizens ist, dass sie keine Verhandlungsmacht haben, das heißt sie können im Kampf für ihre Rechte auf keinerlei Entzugsmacht wie zum Beispiel eine Arbeitsniederlegung zurückgreifen. Das einzige, das ihnen bleibt, ist mit Einsatz ihrer eigenen Gesundheit, im Endeffekt sogar ihres Lebens, für ihre Rechte zu kämpfen.
Im Gegensatz zu den Non-Citizens haben die arbeitstätigen lohnabhängigen Citizens jedoch eine starke Waffe, um ihre Rechte und die von anderen Ausgebeuteten und Unterdrückten zu erkämpfen: den politischen Streik. Lasst ihn uns nutzen, um unsere eigene Situation und die aller Menschen hin zu einem besseren Leben zu wenden! Denn wir haben es mit dem selben Feind zu tun: Der Imperialismus, der mittels Kriegen, Waffen- und Krisenexporten Flucht und Vertreibung bedingt, unterwirft auch die Lohnabhängigen in den imperialistischen Staaten selbst. Der Reichtum, der durch die Ausbeutung und Zerstörung von Kolonien und Halbkolonien erzeugt wird, ist nur der Reichtum der herrschenden Klasse. Wenn Krauss-Maffei Wegmann oder Siemens Gewinne mit Kriegsverkäufen machen, wenn die Deutsche Bank oder die Allianz mit Kapitalanlagen und Spekulationen Hungerkrisen hervorrufen, stärkt das ihre Stellung im eigenen Land. Diese Stellung nutzen sie, um löhne zu drücken, Entlassungen umzusetzen, Prekarisierung voranzutreiben und mithilfe von Privilegierungssystemen in den Betrieben – im Verhältnis zu den Konzernprofiten sind diese Privilegien immer noch Brotkrümel! – die Klasse der Lohnabhängigen zu spalten.
Der Staat, der hier angeblich erpresst wird, ist in Wirklichkeit das Werkzeug zur Erpressung der lohnabhängigen Klasse. Die Logik dieser Erpressung ist: “Wenn ihr nicht zufrieden seid mit euren Privilegien – wie relativ hohen löhnen, Hartz IV oder auch nur Arbeits- und Aufenthaltsrechten –, warten vor den Toren genug andere, die dafür noch dankbar wären. Beschwert euch nicht oder ihr könnt sehen, wo ihr bleibt.”
Position 3) “Das sind doch nur Asylbetrüger, die sich hier ein schönes Leben auf Kosten der Allgemeinheit machen wollen!”
Weltweit sind Menschen gezwungen ihre Heimat zu verlassen, sei es aus bitterer, lebensbedrohlicher Armut heraus, wegen Krieg oder politischer Verfolgung. Auch die Non-Citizens kommen aus allen Teilen der Erde. Fliehen mussten sie vor allem wegen der Durchsetzung imperialistischer Interessen der BRD und anderer kapitalistischer Großmächte, die versuchen mit Kriegen den mehr oder weniger “reibungslosen” Ablauf der Kapitalakkumulation in fremden Regionen zu sichern. Hierbei wird versucht durch die Ausbeutung von Rohstoffen und Arbeitskräften möglichst hohe Gewinne für die Profite der Konzerne in den kapitalistischen Zentren zu schaffen.
Um diese Kapitalakkumulation gegen den Willen der jeweiligen Bevölkerung durchzusetzen, wird auf die Hilfe befreundeter autoritärer Regime zurückgegriffen oder im Zweifelsfall das Militär der imperialistischen Staaten selbst ausgesandt, wie unter anderem von Deutschland nach Afghanistan oder aktuell von Frankreich nach Mali. Der Militäreinsatz in Libyen bietet ein weiteres Beispiel für eine imperialistische Intervention in der jüngeren Vergangenheit. Der dortige ehemalige Machthaber Muammar al-Gaddafi wurde lange Zeit von den Regierungschefs der westlichen Staaten hofiert. Als er jedoch nicht mehr im Stande war gegen die Rebellion 2011 die Kapitalakkumulation für die westlichen Staaten sicherzustellen, wurde er von diesen fallengelassen und militärisch beseitigt.
Auch mit wirtschaftlicher Unterwerfung kommen die imperialistischen Staaten zu ihren Zielen. So sind beispielsweise TextilarbeiterInnen in Bangladesch dazu gezwungen, zu Hungerlöhnen unter katastrophalen Arbeits- und Sicherheitsbedingungen für die Textilketten in Europa und Nordamerika zu arbeiten. Der Welthunger entsteht nicht aus Mangel, sondern aus Ìberschuss und Profitzwang; er ist ebenso lebensbedrohlich wie scharfe Waffenmunition. Die einzigen schließlich, die sich auf Kosten der Menschheit ein schönes Leben machen, sind die KapitalistInnen. Die einzigen, die ihnen etwas entgegensetzen und sie überwinden können, sind die organisierten Lohnabhängigen der Welt, im Bündnis mit der Jugend und den Unterdrückten aus Stadt und Land. Ein üppiges Leben für alle ist technisch längst möglich – aber nicht im Kapitalismus.
Position 4) “Die Flüchtlinge sollen froh sein, dass sie überhaupt Unterkünfte und Essen bekommen. Als Bittsteller steht es ihnen nicht zu, mehr zu verlangen!”
Der bürgerliche Staat setzt in seinem Zynismus voraus, dass die Non-Citizens in Deutschland Dankbarkeit zeigen müssten, weil sie “privilegiert” sind gegenüber denjenigen, die es nicht über die Grenzen geschafft haben, sondern z.B. von der europäischen “Grenzschutzbehörde” Frontex im Mittelmeer versenkt wurden. Eine andere politische Option wird ihnen nicht zugestanden.
Mit Zwangsunterkünften und Essenspaketen ist kein würdiges Leben zu führen. Wenn bürgerliche PolitikerInnen sagen, ein Mensch solle trotzdem damit zufrieden sein, bedeutet das, er solle sich mit seiner Unterwerfung abfinden – oder Gewalt spüren. Mit Gewalt schließlich räumte Polizei auf Anweisung der Landeshauptstadt München das Protestcamp der Hungerstreikenden am Rindermarkt. Dies war nicht etwa eine “humanitäre Intervention”; schließlich werden die Menschen, deren Leben hier angeblich von Ude und Co “gerettet” wurde, teils in Hunger, Folter und Krieg abgeschoben. Die Räumung des Camps war staatliche Repression gegen das politische Selbstbewusstsein, das die Non-Citizens mit ihrem Protest ausdrückten, und das an dem bürgerlichen Prinzip rüttelt, nach dem nur die herrschende Klasse selbstbewusst auftritt.
Die Non-Citizens wollen keine “Bittsteller” sein, dies ist Teil ihres Kampfes. Sie wollen nicht wie Gefangene behandelt werden, denen Essenspakete verordnet werden, die nicht legal (und relativ abgesichert) arbeiten dürfen und die in Lagern eingesperrt werden. Statt wie Objekte von Amt zu Amt und von Lager zu Lager geschickt zu werden, wollen sie selbst über ihr eigenes Leben entscheiden. Die Non-Citizens sind keine “Opfer”, die bei den gnädigen Damen und Herren aus den Verwaltungen nach Almosen fragen. Sie sind nicht bereit, nach Hunger und Krieg, nach Flucht und Vertreibung aus ihrer Heimat erneut als Knechte aufzutreten.
Der Wohlstand in Deutschland ist auch eine Folge der Ausbeutung und Unterdrückung der Halbkolonien und Kolonien im Zuge der internationalen Arbeitsteilung sowie dem Kriegsgeschäft. Die Verschiebung des Reichtums aus diesen ländern nach Deutschland wirft die Frage auf, wessen Geld es hier zu teilen gilt. Ein Teil der internationalen ArbeiterInnenklasse kommt nach Deutschland, um am Reichtum in Deutschland teilzunehmen, der ein Arbeitsprodukt der internationalen ArbeiterInnenklasse selbst ist. Die Non-Citizens in Deutschland sind keine BittstellerInnen, sondern aktive KämpferInnen um die Neuverteilung des Reichtums: sie befinden sich auf der Seite der Hartz- IV-EmpfängerInnen, Arbeitslosen, RentnerInnen und ArbeiterInnen, die auch bei der momentanen Aufteilung des Reichtums in Deutschland benachteiligt sind.
Position 5) “Die Protestierenden werden nur instrumentalisiert, um andere Interessen durchzusetzen!”
Oftmals wird behauptet, die Non-Citizens führten ihren Kampf nicht selbstbestimmt, sondern seien durch äußere Interessen oder interne Hierarchien bestimmt. In diese Kerbe schlägt auch der Münchner Oberbürgermeister Christian Ude, wenn er von “Kommandostrukturen” innerhalb der Protestierenden spricht. Er bezieht sich dabei darauf, dass der Vermittler der Non-Citizens, der selbst kein Non-Citizen mehr ist, beim Hungerstreik am Rindermarkt nicht gewechselt habe. Dass dies deshalb nicht geschehen ist, weil der von Ude kritisierte “Rädelsführer” der einzige vertraute und sprachlich fähige Vermittler war, scheint Ude nicht zur Kenntnis zu nehmen oder gezielt zu verschleiern. Die Non-Citizens sind jedoch bewusst in diesen Kampf getreten und haben ihren Vermittler gewählt, weil sie ihm vertrauen und er sprachlich dazu in der Lage ist, die Entschlüsse, die sie gemeinsam treffen, an die Öffentlichkeit und an politische Verhandlungsebenen weiterzugeben; nicht aber wurde er mit einer Vollmacht ausgestattet, im Namen der Non-Citizens bei Verhandlungen zu entscheiden. Die Non-Citizens bestehen darauf, Subjekt ihres eigenen Kampfes zu sein und verbitten sich eine Einmischung in ihre Aktionsformen. Schon vor dem Hungerstreik am Rindermarkt betonten die Non-Citizens stets organisatorisch ihre politische Unabhängigkeit. Indem eine “Instrumentalisierung” herbeifantasiert wird, soll wiederum bestritten werden, dass sie sich zu organisieren in der Lage sind.
Als Menschen mit gesichertem Aufenthaltsstatus ist es unsere Möglichkeit und politische Aufgabe, die Non-Citizens und Asylsuchenden in ihrem Kampf bestmöglich zu unterstützen. Dies sollte nicht (nur) geschehen, um das eigene Gewissen als Privilegierte zu bereinigen, sondern wir müssen die Gemeinsamkeiten in den Kämpfen der Non-Citizens und unseren Kämpfen erkennen. Von der jetzigen Wirtschaftsweise sind wir alle betroffen: Die Non-Citizens dadurch, dass ihre Lebensgrundlage oder Heimat zerstört wird und sie zur Flucht genötigt werden, wir Lohnabhängigen in den kapitalistischen Zentren durch fortschreitenden Sozialabbau und Druck auf der Arbeit oder als Erwerbslose auf dem Arbeitsamt. Verantwortlich dafür ist ein Wirtschaftssystem, in dem eine kleine Gruppe von Herrschenden über die Verwendung unsere Arbeitskraft und über unsere Lebensbedingungen entscheiden kann, und zwar dadurch, dass diese herrschende Minderheit die Verfügungsgewalt (das legale Eigentum) an den Produktionsmitteln (Fabriken, Maschinen, Boden) besitzt. Durch die relative Privilegierung unsererseits, also der Citizens, gegenüber den Non-Citizens wird daher ein Keil zwischen die weltweite lohnabhängige Klasse getrieben, der nur den Herrschenden dient.
Die Interessen der Non-Citizens sind somit auch die Interessen der (lohnabhängigen) Citizens. Es braucht eine gemeinsame Perspektive für eine andere Wirtschaftsweise, die ohne Ausbeutung, Fremdbestimmung und Zerstörung unserer Lebensgrundlage auskommt. Um diese zu erreichen, müssen wir eine Massenbewegung bilden, in die sich andere Kämpfe (wie Arbeitskämpfe, aber auch Wohnraumkämpfe, antimilitaristische Kämpfe oder Bildungskämpfe) einbringen, mit den Non-Citizens solidarisieren und gemeinsam aktiv werden. Der Kampf der Non-Citizens ist ein Kampf für die Aufhebung der Beschränkungen innerhalb der ArbeiterInnenklasse und zielt auf die Einheit der arbeitenden Menschen. Das ist unsere Klassenperspektive, jenseits bürgerlicher Moralvorstellungen über Non-Citizens als lediglich arme und moralisch bemitleidenswerte Opfer. Auf dieser Grundlage ist dieser Kampf ein Kampf aller Arbeitenden und Entrechteten in Deutschland und weltweit.