Am Scheideweg zwischen Reform und Revolution
Todestag von Rosa Luxemburg
15/01/2009
Die »Rote Rosa« war einer der wichtigsten Führerinnen des deutschen Proletariats. Sie war Philosophin, Politikerin, internationalistische Revolutionärin und marxistische Theoretikerin.
1914, nach der Unterstützung der SPD für den Ersten Weltkrieg, gründete sie zusammen mit Karl Liebknecht, Franz Mehring und Clara Zetkin den Spartakusbund. Wie Liebknecht wurde sie aufgrund ihres aktiven Widerstands gegen den Krieg verhaftet und durch die Revolution vom November 1918 befreit. Im Januar 1919 beteiligte sie sich an der Gründung der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD), wurde aber von den konterrevolutionären Kräften am 15. Januar 1919 ermordet. Nach der Russischen Revolution von 1905 entwickelte sich eine harte Auseinandersetzung mit Karl Kaustky über die Rolle der Massen in der Revolution und die Notwendigkeit für eine revolutionäre Orientierung. Sie diskutierte auch mit Lenin, mit dem Luxemburg Differenzen in Bezug auf die Politik gegenüber der nationalen Frage hatte und wegen des Verhältnisses zwischen der revolutionären Partei und der spontanen Massenbewegungen. Im Jahre 1917 kritisierte sie auch die Politik der Bolschewiken der Verfassungsgebenden Versammlung. Im Gegensatz zur gesamten Sozialdemokratie und deren historischen Führern wie beispielsweise Kautsky, war sie eine überzeugte Anhängerin der Oktoberrevolution und der Diktatur des Proletariats. Jahre später versuchten viele Skeptiker, einen angeblichen »Spontaneismus« der Massen im Gegensatz zur Notwendigkeit des Aufbaus einer revolutionären Partei mit Luxemburgs Namen zu rechtfertigen beziehungsweise die Russische Revolution zu verunglimpfen. Eine absolute Fehlzuschreibung dieser Revolutionärin, die ihr Leben dem Aufbau einer internationalistischen und revolutionären Arbeiterpartei, sowie dem Kampf für den Sozialismus widmete.
In Deutschland vereinnahmten verschiedene politische Strömungen das Vermächtnis von Rosa Luxemburg: Sozialdemokraten, Stalinisten, Anarchisten - alle haben ihr eigenes Bild von ihr gezeichnet, entsprechend ihrer strategischen Interessen. Heute, 90 Jahre nach ihrer Ermordung durch die von den Sozialdemokraten unterstützte Konterrevolution, tritt auch die reformistische neue Partei »Die Linke« dieser Runde bei und bezieht sich in einer schon beinahe mythischen Weise auf Rosa Luxemburg. Ähnlich wie bei ihrer - zwar lautstark propagierten, jedoch sehr begrenzten - Rückbesinnung auf Marx werden Rosa Luxemburgs Person und Theorien lediglich insofern thematisiert, als sie der zutiefst reformistischen Ideologieproduktion der Linken nicht im Wege steht. Jedoch ist gerade das verschwiegene zentrale Anliegen Luxemburgs von unstreitbarer Gültigkeit: der Kampf gegen den Reformismus für eine revolutionäre Perspektive; jenseits des Mythos oder herausgepickten Einzelheiten der Gedanken Luxemburgs und auch den Fehlern in ihrer Krisen- und Imperialismustheorie),
In Deutschland trat der Widerspruch zwischen Reform und Revolution auf, als das Kapital scheinbar ohne Widersprüche voranschritt. Auf dem Weg zur Massenpartei wuchs in der SPD seit 1890 eine Schicht von Abgeordneten und Verwaltungsbeamten heran, die von ihren Posten lebten. Als Bernstein ab 1899 seine Schrift »Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie« veröffentlichte (eine Artikelreihe zur Revision der Marxschen Zusammenbruchstheorie), traf er die Interessenlage der Arbeiteraristokratie und wurde aufgrund seiner Annahme, Marxens Prognosen seien falsch, zum Urvater des Revisionismus. Er schloß aus dem zeitweiligen Ausbleiben von Krisen auf eine dauerhafte Stabilität des Kapitalismus: Die Arbeiter leben unter besseren Bedingungen, der Kapitalismus ist erstarkt und es gibt eine Sozialgesetzgebung. Die SPD müsse ihre revolutionären Ziele daher aufgeben und sich ganz auf Verbesserung der Lebensbedingungen der Arbeiter konzentrieren, deren stärkste Waffe nun das Wahlrecht sei. Nach Bernstein, sei die Bourgeoisie seiner Zeit nicht die von Marx und Engels ehemals kritisierte. Sie sei viel stärker fragmentiert (reiche, kleine und neu entstehenden Mittelschichten). Bernstein zielte darauf ab, diese Botschaft an spezifische Sektoren der Bourgeoisie heranzutragen. Die Ungerechtigkeiten des Kapitals würden das Bewusstsein und die Organisationen des Proletariats anheben. Um den Kapitalismus zu versüßen, müssten der Reichtum verteilt und die kleinen Produzenten unterstützt werden. Nach Ansicht der Revisionisten werde der Kapitalismus nicht zusammenbrechen und man brauche ihn somit nicht durch den Sozialismus zu ersetzen, sondern müsse ihn steuern, kontrollieren und nach besten Ermessen regulieren. Bernstein lehnte private Unternehmen nicht grundsätzlich ab. Der Staat greife zwar mehr und mehr ein, aber innerhalb dieser Privatunternehmen »[kann] ein gutes Industriegesetz (...) besser sein als hundert Verstaatlichungen«[1].
Rosa Luxemburg antwortete Bernstein 1899 in ihrem berühmten Pamphlet: »Sozialreform oder Revolution.« Sie erklärte, wenn Bernstein Recht habe, sei die Sozialdemokratie überflüssig. Auf die automatische gerechte Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums zu warten, sei eine Utopie und verurteile die SPD wie Don Quichotte zum Scheitern. Luxemburg wirft Bernstein vor, aus dem philosophischen Materialismus zu fliehen und Zuflucht im prä-marxistischen Idealismus der utopischen Sozialisten zu suchen.
Während für die Revisionisten das Kreditsystem, die Medien und öffentlichen Gesellschaften mit beschränkter Haftung eine nachweisliche Anpassung des Kapitalismus auf seinem Weg in Richtung Sozialismus darstellen, befriedigen diese Institutionen für Luxemburg ausschließlich die Erfordernisse der kapitalistischen Entwicklung. Sie sieht darin den Beginn der Auseinandersetzungen zwischen den zunehmend leistungsfähigeren Nationalbourgeoisien Europas - ein deutlicher Beweis hierfür seien die Militarisierung und die Zollpolitik jener Zeit. Ihre stärksten Argumente gegen Bernstein konzentrierten sich auf den Klassencharakter des bürgerlichen Staats. In Bezug auf die Rolle der Gewerkschaften erklärte sie, dass diese, da systemisch bedingt, lediglich versuchen könnten, eine minimale Beteiligung für die Arbeiterklasse an den Gewinnen der Bourgeoisie zu erlangen, aber nicht die Ausbeutung an sich, den Klassenwiderspruch überwinden könnten. Sie sah die Sozialdemokratie nur solange von der Bourgeoisie geduldet, wie sie stillhalte. Erst im Zusammenbruch des kapitalistischen Systems könne sie die Macht im Sinne der Arbeiterklasse nutzten. In den deutlichen Worten Rosa Luxemburg heißt dies, dass mit der Reduzierung auf Reformen und der Beteiligung an bürgerlichen Regierungen nicht der Ìbergang zum Sozialismus erreicht werden kann. Sie bezieht sich damit auf Marx, der sagte, dass der bürgerliche Staatsapparat Herrschafts-instrument sei und somit nicht von der Arbeiterklasse übernommen werden kann. Deshalb, so argumentiert Luxemburg, solle die SPD die Führung im Aufbau des nötigen Klassenbewusstseins übernehmen und die Selbsttätigkeit der Arbeiter fördern, sie jedoch nicht blockieren. Luxemburg sah die von der Sozialdemokratie angestoßenen Reformen als notwendig an, aber nur unter der Prämisse »der Kampf für soziale Reformen ist das Mittel, das Ziel ist die soziale Revolution«[2]. Das strategische Ziel der Arbeiterklasse und ihrer Führungen müsse also die Revolution sein. Für Luxemburg lag die Verantwortung der Partei nur in der Aufklärung der Massen, um diesen so zu ihrer Unabhängigkeit zu verhelfen - und sie in die Lage zu versetzen, die Macht für sich selbst zu ergreifen. Die Partei müsse also das subjektive Element der Revolution herausbilden, das Bewusstsein der Arbeiterklasse für ihre historischen Aufgaben entwickeln. Sie stellte klar, dass eine Partei, die »für« die Arbeiter zu sprechen sucht, die sie vertrete (zum Beispiel in den bürgerlichen Parlamenten) und in ihrem Namen handle, »sich selbst beschmutzen und zu einem Instrument der Konterrevolution wird«[3].
So wurde Rosa Luxemburg schon früh zur Wortführerin der internationalen sozialistischen Linken - durch ihren unversöhnlichen Kampf gegen den Revisionismus, der versucht(e), grundlegende revolutionäre Elemente des Marxismus programmatisch und praktisch zu »revidieren« und die Arbeiterklasse mit der Herrschaft des Bürgertums auszusöhnen. In diesem Kampf verteidigte Luxemburg die Marxsche Theorie des Kapitalismus, die These von der Krisenhaftigkeit dieser Produktionsweise, den revolutionären Charakter der Arbeiterklasse und die Notwendigkeit der sozialistischen Revolution. Die Arbeiterklasse braucht - darauf wies Luxemburg immer wieder hin - eine revolutionäre Partei als Führung, die »auf Grundlage einer wissenschaftlichen Programmatik agiert, das Proletariat auf die Machteroberung vorbereitet und zur Macht führt.«[4]
Allerdings verfolgten der Revisionist Bernstein und der Renegat Kautsky weiterhin den Weg des sozialen Reformismus und bestimmten so den Trennlinie zwischen Reform und Revolution in Deutschland, sowie den Beginn einer langen Geschichte des Verrats der Sozialdemokratie an den historischen Interessen der Arbeiterklasse. Die Trennung in Minimalforderungen, d.h. Reformen, die auch innerhalb des kapitalistischen Systems durchsetzbar sind, und Maximalforderungen (die sozialistische Gesellschaft) wurden zur Grundlage jedes sozialdemokratischen Programms. Dadurch wurde das Agieren in den Parlamenten zur Grundlage jeden politischen Handelns zur Durchsetzung der politischen Minimalforderungen, während die Maximalforderungen auf den Sankt Nimmerleinstag verschoben wurden.
Dies war die Ausrichtung der SPD während des Nachkriegsbooms, bis sich im vergangenen Jahrzehnt ihre Wendung hin zu einer Partei der Konterreformen klar vollzog. Die überwiegende Mehrheit der Gewerkschaftsführungen folgt ebenfalls dieser Ausrichtung, auch wenn sie noch nicht so weit in ihrer opportunistischen Wende gehen konnte. Denn sie ist einem höheren Druck durch die Arbeiter ausgesetzt. Dieser altbekannte, reformistische Ansatz wird heute ebenso von der Partei »Die Linke« übernommen, auch sie dadurch nicht gehindert wird, zusammen mit der SPD neoliberale Politik in Berlin durchzusetzen.
Die Trennung zwischen Minimal- und Maximalforderungen wurde von Rosa Luxemburg vehement mit dem Argument kritisiert, dass Verbesserungen für die Unterdrückten nur durch eine revolutionäre Perspektive erreicht werden können. Und das gesamte 20. Jahrhundert zeigt, dass es nur durch die bourgeoise Angst vor der Revolution möglich war, einige Zugeständnisse in Gestalt von Reformen zu erringen (Reformen, die im Kapitalismus Tag für Tag untergraben werden, vor allem in Zeiten wie diesen.) Die konkrete Ausformulierung eines Programms, das Reform und Revolution verbindet, lieferte schließlich Leo Trotzki in seinem »Ìbergangsprogramm«. Viele der darin enthaltenen Forderungen sind heute aktueller denn je.
Die derzeitige Situation ähnelt jener am Beginn des 20. Jahrhunderts. Wir sind in eine Krisenperiode des Kapitalismus eingetreten. Die herrschende Klasse führt einen Generalangriff auf die Lohnabhängigen und Unterdrückten - weltweit. Daher müssen die Abwehrkämpfe gegen den Sozialraub in ganz Europa, gegen Krieg und imperialistische Besatzung, gegen verschärfte Ausbeutung im Inneren und Expansion mit dem grundsätzlichen Kampf gegen den Kapitalismus verbunden werden. Dabei können wir von einer der wichtigsten Anführerinnen des deutschen Proletariats und ihren theoretischen Ausarbeitungen lernen: Es ist in Zeiten der sich verschärfenden Krisen und Klassenwidersprüche notwendig, die Illusionen bezüglich der bürgerlichen Demokratie abzulegen und für den Aufbau von konsequent revolutionären Parteien zu kämpfen: »Die Abschaffung der Kapitalsherrschaft, die Verwirklichung der sozialistischen Gesellschaftsordnung - dies und nichts Geringeres ist das geschichtliche Thema der gegenwärtigen Revolution. Ein gewaltiges Werk, das nicht im Handumdrehen durch ein paar Dekrete von oben herab vollbracht, das nur durch die eigene bewusste Aktion der Masse der Arbeitenden in Stadt und Land ins Leben gerufen, das nur durch höchste geistige Reife und unerschöpflichen Idealismus der Volksmassen und ihrer Partei durch alle Stürme glücklich in den Hafen gebracht werden kann.«[5]
[1] Bernstein, Eduard (1899): Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie
[2] Luxemburg, Rosa (1899): Sozialreform oder Revolution?
[3] Luxemburg, Rosa (1899): Sozialreform oder Revolution?
[4] Luxemburg, Rosa (1918): Zur russischen Revolution
[5]Luxemburg, Rosa (1918): Der Anfang